16. September 1982: Die "entscheidende Sitzung" |
Gegen 12 Uhr hat an diesem 16. September eine fünfköpfige Delegation der Bewohner der Flüchtlingslager Sabra in Richtung aus das Stadion verlassen. Sie wollte die Israelis bitten, den Beschuß der Lager einzustellen. Sie wollte erklären, daß es keinen Widerstand geben werde, sollte die israelische Armee die Lager besetzen. Diese fünf Männer sind nie wieder aufgetaucht. Erst zwei Tage später haben Lagerbewohner, die zum Verhör ins Stadion gebracht worden sind, die Leichen von zwei Angehörigen der Delegation identifiziert: den 55-jährigen Ahmed Hishiw und den 60-jährigen Abu Ahmad Said.
Im israelischen Hauptquartier am Beiruter Hafen hat indessen um 15 Uhr 30 die - wie es später das amerikanische Nachrichtenmagazin "Time" formuliert - "entscheidende Sitzung" begonnen. Den Vorsitz führte Generalmajor Amos Drori, Kommandeur der israelischen Streitkräfte im Libanon. Drei andere hochrangige Israelis waren zugegen, unter ihnen General Amos Yaron. Ihre Verhandlungspartner waren die künftigen Mörder. Zwar ist immer verschleiert worden, wer da alles ins israelische Hauptquartier geeilt ist, um das Massaker vorzubereiten, einige Namen aber werden immer wieder genannt. Da steht an erster Stelle der 28-jährige Elias Hobeika, Chef des Sicherheitsdienstes der Phalange. Er sei, schreibt "Time", ein Mann, "der stets eine Pistole, ein Messer und eine Handgranate am Gürtel trägt". Er sei "der meistgefürchtete Phalangist im Libanon". Hobeika gilt überdies als Vertrauensmann des israelischen Geheimdienstes Mossad wie auch der amerikanischen CIA. Er ist in Israel ausgebildet worden und die Israelis, so "Time" weiter, "kennen Hobeika als unbarmherzigen, brutalen Sicherheitsmann". Dieser Elias Hobeika ist für die persönliche Sicherheit Baschir Gemayels verantwortlich gewesen. Ihm konnte man den Tod des Präsidenten anlasten, seiner Unfähigkeit oder seiner Nachlässigkeit. Wie zu erfahren ist, haben der illustren Runde am Nachmittag dieses 16. September sicherlich noch drei andere Männer angehört. Dib Anastas sei dabei gewesen, der Chef der Militärpolizei der "Lebanese Forces". Joseph Edde, der Kommandant der Rechtsmilizen im südlichen Libanon, der sogenannten "Damour-Brigade", sei ins israelische Hauptquartier gekommen. Und Michel Zouein, der Adjutant Hobeikas, habe teilgenommen. Da sich die Israelis über diesen Aspekt auch weiterhin ausschwiegen, haben die amerikanischen Journalisten Colin Campbell ("New York Times") und Loren Jenkins ("Washington Post") auf eigene Faust Recherchen angestellt. Das wird ihnen verübelt werden. Am 28. September läßt ihnen die US-Botschaft in Beirut eine Warnung zugehen (die Enthüllung der Namen brächte sie in Gefahr). Am Morgen des 29. September werden Campbell und Jenkins durch amerikanische Diplomaten nach Damaskus in Sicherheit gebracht. Die beiden Reporter haben anhand von Zeugenaussagen feststellen können, wer an den Massakern beteiligt war, und das erlaubte ihnen Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der Sitzung im israelischen Hauptquartier. In den Lagern sah man Leute der "Spezial-Sicherheitseinheiten" von Hobeika, Angehörige der "Militärpolizei" von Dib Anastas, die an ihren schwarzen Baretten erkennbaren Kommandos der "Damour-Brigade" von Joseph Edde und Angehörige der Haddad-Armee. Um die Beteiligung oder Nichtbeteiligung der Haddad-Leute wird es später einigen Wirbel geben. Eine israelische Untersuchungskommission wird den Major Haddad - übrigens als einzigen aller Betroffenen - von jeglicher Schuld freisprechen. Und das wird aus gutem Grund geschehen. Von irgendwelchen Phalange-Subjekten glaubte die israelische Führung sich noch leicht distanzieren zu können, womit die ganze Sache zu einer rein innerlibanesischen Affäre würde. Im Falle Haddads aber wäre das kaum möglich, die Unterstellungsverhältnisse sind zu klar. Fiele auf Haddad der Schatten eines Verdachts, geriete auch Israel ins Gerede. Aber es gibt Zeugen! An diesem Donnerstag, dem 16. September, haben zwei Offiziere der libanesischen Armee, die auf dem Beiruter Flugplatz stationiert waren, die Landung von zwei Transportmaschinen Typ C-130 "Hercules" der israelischen Luftwaffe auf der Landebahn 1 beobachtet. Ihnen sind Uniformierte entstiegen. Militärfahrzeuge wurden entladen. Die beiden libanesischen Offiziere waren überzeugt, es handele sich um Haddad-Leute. Der Korrespondent der Pariser "Le Monde" hat nach den Massakern berichtet: "Der Major Haddad wurde in den letzten Tagen bei mehreren Gelegenheiten in West-Beirut gesehen. Einige seiner Leute haben am Freitagabend (am 17. September) im Stadtviertel Mousseitbe ein Büro der Sozialistischen Fortschrittspartei angegriffen. Während des Zusammenstoßes sind zwei von ihnen gefangengenommen worden. Sie hatten Militärpapiere in Arabisch und Hebräisch bei sich, sie hatten jedoch an der Windschutzscheibe ihres Wagens einen Aufkleber der Phalange." Gewiß, Mousseitbe ist nicht Sabra oder Schatila. Aber die Israelis und Haddad werden stets bestreiten, daß der Major oder seine Leute zum fraglichen Zeitpunkt überhaupt in Beirut gewesen seien. Auf die drängenden Fragen des "Times"-Korrespondenten Robert Fisk hat Haddad später geantwortet: "Möglicherweise hat man einige unserer Abzeichen gesehen, denn vielleicht könnten einige unserer Leute bei anderen Streitkräften in Beirut gedient haben. Außerdem sammeln manche Leute Abzeichen als Souvenirs, und sie könnten sie während des Tötens getragen haben." Der Major Haddad hat alles auf Souvenirsammler abgewälzt, andere Leute haben sich ungestraft zum Mord bekannt. Das israelische Fernsehstudio in Beirut (ja, auch das gab es bereits!) zeichnete ein Interview mit einem angeblichen Phalange-Offizier auf, der sich "Michel" nannte. Bevor Kamera und Mikrofon eingeschaltet waren, hat "Michel" erzählt, er sei in Sabra und Schatila dabei gewesen und habe dort eigenhändig fünfzehn Menschen getötet. Er finde nichts Schlimmes dabei, Palästinenser zu töten. In dem später in Israel ausgestrahlten Interview hat er gesagt: "Was die israelische Armee dabei tut, ist ohne Belang. Sie kann uns nicht am Töten von Palästinensern hindern." Das mag als geradezu perfekte Entschuldigung für die Israelis gedacht gewesen sein. Aber am 25. Oktober erklärt Ariel Scharon vor der Untersuchungskommission: "Wir wissen genau, wen wir in die Lager hineingelassen haben und wer herausgekommen ist. Aber wer dort gemordet hat - so würde ich sagen, daß ich es bis heute nicht weiß." Um 16 Uhr, als an diesem 16. September gerade die "Hercules"-Maschinen auf der Landebahn 1 aufsetzten und die Sitzung im israelischen Hauptquartier am Hafen noch andauerte, wurde dort aus Tel Aviv angerufen. Die Aussagen darüber, wer am anderen Ende der Leitung war, bleiben widersprüchlich, ob es Scharon oder Generalstabschef Eitan gewesen sei. Wer auch immer - aus Tel Aviv ist angefragt worden, wann die Milizen bereit seien, in die Lager einzufallen. General Drori hat geantwortet: "Sofort!" Auf der Besprechung hatte man inzwischen die Einmarschwege festgelegt. Einen Vorschlag der Milizen, daß sie von israelischen Verbindungsoffizieren in die Lager begleitet werden sollten, hätten die Israelis abgelehnt. Überhaupt ist in Israel immer bestritten worden, daß israelische Soldaten direkt an den Vorgängen in den Lagern beteiligt gewesen seien. Es gibt keine Beweise des Gegenteils, nur einige befremdliche Indizien. So haben Überlebende nach den Massakern zwischen den Leichen einen israelischen Militärpaß und eine Erkennungsmarke mit der Nummer 3 340 074 gefunden. Der Ausweis (Nr. 5 731 872) war auf den Namen des Sergeanten Benny Chaim, geboren am 7. September 1961, ausgestellt. Wie ist das nach Schatila gelangt? Und wer war oder ist Benny Chaim? Es hat nie Antworten auf diese Fragen gegeben. Einige Monate später präsentiert die amerikanische Nachrichtenagentur AP drei Zeugen aus Schatila, die 44-jährige Ektefa Challah, ihre 16-jährige Tochter und eine Nachbarin. Frau Challah hat bis zu ihrem 10. Lebensjahr in Haifa gewohnt, sie spricht Hebräisch. Sie berichtet, am 16. September, als die Morde begannen, sei ein israelischer Soldat ins Lager gekommen und habe mit ihr gesprochen. Später wurde der Mann der Nachbarin zusammen mit anderen Männern vor eine Wand geführt und erschossen. "In diesem Augenblick war der Israeli bei mir," sagt Frau Challah. Er habe die Phalangisten aufgefordert, sie und ihre Kinder in Ruhe zu lassen... Jedenfalls hat General Drori nach dem Ende der Sitzung mit den Phalangisten, also um 17 Uhr, noch einmal mit Verteidigungsminister Scharon telefoniert: "Unsere Freunde gehen in die Lager. Ich habe den Einmarsch mit ihren Spitzenleuten koordiniert." Scharon hat geantwortet: "Glückwunsch! Die Operation der Freunde ist genehmigt." Sie wußten, was sie taten! Später sagt General Drori aus: "Wir haben sie gewarnt, und wir haben angenommen, daß dies nicht passieren würde." "Sie", das waren die Phalangisten. Hatte der General nicht seine eigene Armee-Zeitung "Bamahane" gelesen, die in ihrer Ausgabe vom 1. September einen Phalangisten-Offizier zitiert hatte: "Wir haben nur ein Problem, nämlich ob wir erst die Männer umlegen oder erst die Frauen vergewaltigen sollen." Und "mindestens ein Offizier" hatte, so die israelische Untersuchungskommission, just bei dieser Beratung "die Befürchtung ausgesprochen", daß es zu einem Massaker kommen könnte. Jetzt, um 17 Uhr, versammelten sich auf der Landebahn 1 des Flugplatzes die Mordkommandos zu einem letzten Appell. Augenzeugen sprechen später von tausend bis eintausendfünfhundert Mann. Schon zuvor sind sie beim Anmarsch von den Bewohnern des Süd-Beiruter Stadtviertels Choueifat gesehen worden. Auch hier eine Beobachtung, die Robert Fisk zitiert: Die Jeeps hätten Abzeichen der Haddad- Miliz getragen. Auch die sauberen Reifen der Fahrzeuge seien aufgefallen (weil sie mit Flugzeugen nach Beirut gebracht worden sind?). Genau zur gleichen Stunde ist der amerikanische Sonderbeauftragte Morris Draper in Begleitung von Botschafter Samuel Lewis und dem US-Militärattaché in Israel in das Büro des israelischen Verteidigungsministers in Jerusalem gekommen. Das Protokoll über das Gespräch Draper - Scharon, geführt auch in Gegenwart von Armee-Geheimdienstchef Saguy, liest sich so:
Und so ging das Gespräch weiter und weiter, zu einer Stunde, da das Massaker noch zu verhindern gewesen wäre. Die israelischen Generale haben darauf beharrt, allein die Präsenz ihrer Soldaten verhindere Schlimmes, und sie wußten, daß sie logen. Die Amerikaner haben sich letztlich mit einer milden Kritik zufrieden gegeben. Inzwischen richteten die Mord-Milizen im Gebäude der Botschaft Kuweits, direkt am Südeingang von Schatila, einen Kommandoposten ein, dicht bei dem israelischen Beobachtungsposten auf dem Dach des sechsstöckigen Gebäudes. Um diesen israelischen Beobachtungsposten wird es später ausgedehnte Debatten geben. Nämlich: Ob von dort aus zu beobachten war, was sich drunten in Schatila abspielte. Scharons Aussage vor dem Untersuchungsausschuß: "Ich war zuvor auf dem Dach des israelischen Kommandostandes. Wir konnten von Sabra und Schatila nur einen Haufen Häuser sehen, aber nichts von dem, was sich auf den Straßen abspielte" Der amerikanische Journalist Robert Suro vom Nachrichtenmagazin "Time" besucht nach den Massakern den Kommandostand und findet "geleerte Konservenbüchsen, israelische Zeitungen und einen ungehinderten Panoramablick auf die Region des Schatila-Lagers..." Sein Kollege Ray Wilkinson von "Newsweek" mißt die Entfernung vom Südeingang von Schatila bis zum israelischen Beobachtungsposten: zweihundertfünfzig Schritt. Auf dem Dach stellt er fest: "Von dort sind alle Einzelheiten in den Lagern sichtbar, sogar mit bloßem Auge. Mit Ferngläsern wären die Israelis in der Lage gewesen, selbst das kleinste Detail zu erkennen." Tatsächlich sagen später israelische Soldaten aus, sie hätten nach 17 Uhr gesehen, wie sich Uniformierte mit Messern und Äxten dem Lager näherten. Um 18 Uhr 50 verließen die amerikanischen Diplomaten Scharons Büro. Genau zehn Minuten später war den israelischen Beobachtern über Schatila klar, was drunten vor sich ging. Man hörte nämlich den Funkverkehr der Milizionäre ab, und dabei die Frage eines Kommandeurs, was er mit den fünfzig Frauen und Kindern machen solle, die er zusammengetrieben habe. Hobeika antwortete über Funk: "Das ist das letzte Mal, daß Sie mich fragen. Sie wissen, was zu tun ist." Leutnant Elul, der Adjutant von General Yaron, hatte diese Worte gehört und auf der Stelle seinen Chef informiert. Der General behauptete später, er habe daraufhin Hobeika "verwarnt". Um 19 Uhr - seit einer Stunde war in Sabra und Schatila gemordet worden - kamen, wie zwei israelische Fallschirmjäger später dem Korrespondenten der israelischen Zeitung "Ha'aretz" mitteilen, Frauen aus dem Lager Schatila gerannt und erzählten weinend, daß im Lager Leute umgebracht würden. Die Soldaten informierten mehrfach ihre Vorgesetzten. Antwort: Sie sollten sich nicht darum kümmern. Die Soldaten sagen später: "Man hätte das Massaker am Donnerstagabend beenden können, wenn man zur Kenntnis genommen hätte, was wir unseren Offizieren erzählt haben." Dämmerung hatte sich über Beirut gesenkt. Die israelische Armee begann, aus 81-mm-Mörsern Leuchtgranaten über die Lager zu schießen. Die "Jerusalem Post" zitiert: "Ein Soldat einer Artillerieeinheit sagte, daß seine Truppe die ganze Donnerstagnacht hindurch zwei Leuchtgranaten in der Minute abschoß. Es gab auch den Abwurf von Leuchtbomben durch die Luftwaffe, sagte er." Um 19 Uhr 30 trat in Jerusalem das israelische Kabinett zu einer Sitzung zusammen. Die Minister sollten ihre Zustimmung zum Einsatz der Phalangisten in den Lagern geben, nachträglich wiederum. Die Aussagen über diese Sitzung werfen ein etwas eigenartiges Licht auf die Gepflogenheiten in der Regierung. Ausgerechnet Generalstabschef Eitan, der hinzugezogen worden ist, erklärte dem Protokoll zufolge den versammelten Ministern: "Die Christen warten nur auf Rache, sie wetzen schon ihre Messer... Ich erkenne in ihren Augen, worauf sie warten." Warten? Man mordete bereits, und der Generalstabschef wußte das! Ministerpräsident Menachem Begin später in der Untersuchungskommission zu der Kabinettssitzung: "Tatsache ist, daß es niemandem einfiel, es könnte zu Greueltaten kommen..." Niemandem? Immerhin äußerte Vizepremier David Levy (als einziger) Bedenken. Begin aber erklärt später, er könne sich an Eitans Äußerungen nicht erinnern, und "kein Minister hat sich durch diese Bemerkungen beunruhigt gezeigt." Und: "Ich habe die Warnungen damals, ehrlich gesagt, nicht einmal richtig gehört." Am nächsten Tag, am 17. September, erfuhren die Israelis in ihren Zeitungen: "Sicherheitsminister Scharon und Ministerpräsident Begin erläuterten gestern auf einer außerordentlichen Kabinettssitzung die Lage in Beirut und legten dar, der Einmarsch von ZAHAL sei erforderlich gewesen, um die Stabilität in der Stadt zu gewährleisten." Donnerstag, 16. September 1982, 23 Uhr. Der Kommandeur der Milizen in den Lagern sandte dem israelischen Hauptquartier in Beirut eine Botschaft: "Bis zur Stunde haben wir dreihundert Zivilisten und Terroristen getötet." Diese Mitteilung wurde angeblich an zwanzig oder dreißig israelische Offiziere weitergeleitet, darunter auch an Generalstabschef Eitan. Wenn später die Existenz dieser Nachricht auch bestritten wird, der Militärkorrespondent der "Jerusalem Post", Hirsh Goodman, schreibt am 20. September, er habe sie mit eigenen Augen gesehen. "Mit dem Einmarsch in West-Beirut haben wir eine Katastrophe verhindert." Diese Worte von General Eitan konnte man am Morgen des 17. September in der Zeitung "Yedioth Aharonot" lesen. Es war nach einer Nacht, von der ein ausländischer Mediziner, tätig im Gaza-Hospital in Sabra, sagte, sie sei ein Inferno gewesen: "Der Himmel wurde niemals dunkel. Das Schießen hörte niemals auf. Die Leute schrien." |
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