18. September 1982: Die UNO meldet sich - zu spät
Samstag, 18. September 1982. In der Nacht hat in New York der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den israelischen Einmarsch in West-Beirut verurteilt, einstimmig, sogar mit der Stimme der Vereinigten Staaten, die doch sonst noch immer zugunsten Israels interveniert haben. Israels UNO-Botschafter Yehuda Blum hat allerdings keinen Zweifel daran gelassen, daß sein Land auch diese UNO-Resolution zu ignorieren gedenkt.

Die den Phalangisten vom israelischen Oberkommando gesetzte Frist, bis um fünf Uhr die Lager zu verlassen, ist abgelaufen. Dennoch dringen jetzt Milizionäre in das Gaza-Hospital in Sabra ein. Hier befinden sich noch das medizinische Personal und achtunddreißig Patienten. Die ausländischen Ärzte und Pfleger werden zusammengetrieben und nach Süden, zum Lagereingang von Schatila, geführt. Nur eine Schwester und ein Medizinstudent bleiben bei den Schwerverletzten. Die Ausländer berichten: "Eine palästinensische Krankenschwester wurde aus der Gruppe herausgeholt, um eine Ecke geführt und erschossen. Später identifizierten die Killer einen Krankenpfleger als Palästinenser und erschossen ihn ebenfalls."

Die amerikanische Krankenschwester Ellen Siegel sagt: "Auf beiden Seiten der Rue Sabra standen Frauen und Kinder, zusammengetrieben von Soldaten, die nicht libanesische Uniformen trugen, sondern grüne Militäranzüge und grüne Mützen. Wir schätzten, daß es etwa achthundert bis tausend Frauen und Kinder waren. Man konnte große Bulldozer sehen, die dabei waren, Gebäude einzureißen und im Inneren dieser Gebäude Leichen zu begraben. Eine Frau versuchte, ihr Baby einem ausländischen Arzt in den Arm zu geben, aber sie wurde von den Soldaten gezwungen, den Säugling wieder zurückzunehmen."

Um 8 Uhr 30 treffen die ersten UNO-Beobachter in Sabra ein. Sie entdecken Leichen. Augenzeugen beobachten zu dieser Stunde Bulldozer, die Leichen wegschaffen. Einige der Fahrzeuge tragen Insignien der israelischen Armee.

Robert Fisk schreibt an die "Times": "Hinter der niedrigen Mauer lag eine Reihe junger Männer und Jungen niedergestreckt. Sie waren in einer regelrechten Exekution von hinten vor der Mauer erschossen worden, und sie lagen, pathetisch und schrecklich zugleich, so, wie sie hingefallen waren. Die Exekutionsmauer und das Gewirr von Körpern erinnerte uns irgendwie an etwas, was wir schon einmal gesehen hatten, und erst später wurde uns bewußt, wie ähnlich das alles alten Fotos von Exekutionen aus dem okkupierten Europa im zweiten Weltkrieg war..."

Jack Reddan, der Korrespondent der amerikanischen Nachrichtenagentur UPI berichtet: "Unter einer Baumgruppe gräbt Walid Merhabi Gräber für sechs Tote, die er selbst in Schatila geborgen hat. Darunter sind seine Mutter und seine beiden Neffen... Bulldozerspuren führen an den Fuß eines Sandhügels. Auf einer Strecke von dreißig Metern ist die Erde frisch aufgehäuft. Leichenteile, die aus der Erde ragen, verraten, daß sich unter dem Hügel ein Massengrab befindet."

Samstag, 18. September. Am Mittag kommt Menachem Begin aus der Synagoge, wo er seit dem frühen Morgen gebetet hat. Um 13 Uhr 30 hört er - so sagt er später - im britischen Rundfunk die Nachricht, es habe Morde im Gaza-Hospital gegeben. Er habe gedacht, es handele sich um ein Hospital im von Israel besetzten Gaza-Streifen. Doch dann fragt er bei seinem Sekretär Zeev Zacharin nach. Der telefoniert mit Verteidigungsminister Scharon. Antwort: Den Ärzten sei "nichts Schlimmes" passiert. Der Premier denkt sich nichts Arges. Er fragt nicht zurück.

Am Abend des 16. September hat Menachem Begin Warnungen "nicht gehört". Er hat dem Einsatz der Mordbanden zugestimmt. Der 17. September war Sabbat. Da hat sich der Premier an das Gebot gehalten. Er hat nicht gearbeitet an diesem Freitag. Und an diesem Samstag nun, an diesem 18. September, ist er erst einmal frühmorgens in die Synagoge gegangen. Rosh Hashana steht vor der Tür, das jüdische Neujahrsfest. Der 1. Tischri, der erste Tag des Jahres 5743 jüdischer Zeitrechnung, wird auf den 19. September fallen. Das wird der Überlieferung zufolge der 5743. Jahrestag seit Erschaffung der Welt sein. Zwei Tage lang wird man feiern, die ersten der zehn Bußtage, der Jomin Noraim, der "erhabenen, ehrfurchtgebietenden Tage", die mit dem Versöhnungstag schließen, dem Yom Kippur. Früher, vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer, pflegten die Priester am 1. Tischri den Sündenbock in die judäische Wüste zu treiben, beladen mit allen Sünden des vorangegangenen Jahres.

Am 18. September, am Vorabend des 1. Tischri, beglückwünscht man sich: "Für ein gutes Jahr mögest Du eingeschrieben sein." Im Hauptgebet zu Rosh Hashana aber heißt es: "Wenn Du, Herr, die Herrschaft der Willkür von der Erde entfernst, wird alle Gewalttätigkeit ihren Mund schließen, und alle Gesetzlosigkeit wird wie Rauch vergehen."

Samstag, 17 Uhr. In Washington ist es neun Uhr morgens. In Beirut haben die Reporter und die UNO-Beamten Leichen über Leichen entdeckt. In Washington wird Präsident Ronald Reagan über das Massaker informiert. Keine Frage, die USA haben mit dem Habib-Abkommen Garantien übernommen. Der Präsident selbst hat am 20. August vor einer Verletzung der Vereinbarungen gewarnt: "Alle Parteien, die den Vertrag unterzeichnet haben, tragen in diesem Rahmen ihre besondere Verantwortung." Und nun? Ein Pressesprecher des State Department betont, Washington wisse nicht, "wer in den Lagern den Finger am Abzug hatte".

Um 22 Uhr Beiruter Zeit äußert Ronald Reagan sein Entsetzen. In der offiziellen Erklärung des Weißen Hauses heißt es: "Während der Verhandlungen, die zum Abzug der PLO aus Beirut führten, versicherten uns die Israelis, daß ihre Truppen West-Beirut nicht betreten würden".

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